Muslimisch geprägte Familien und Kulturen verbinden Menschen mit unterschiedlichen Dingen, aber wenn es um Essen und Ernährung geht, denken die wenigsten an eine vegetarische oder gar vegane Lebensweise. Talha Taşkınsoy (Instagram @talhataskinsoyx) hat in seinem letzten Vortrag unserer Vortragsreihe erklärt, dass die vegane Lebensweise ganz und gar nicht im Widerspruch zum muslimischen Leben und auch nicht zum herannahenden Opferfest steht. Besonders beeindruckt hat uns seine Art, nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, seinen Zuhörer*innen Veganismus oder zumindest Vegetarismus aufzudrängen. Talha hat einfach gut informiert und aufgeklärt, was man tun kann, um auch in der Ernährung und im Umgang mit Tieren verantwortungsvoll dem Koran und der Sunna gemäß zu leben. Verantwortung übernehmen ist auch hier wieder das passende Stichwort – nachdem wir in den vergangenen Vorträgen der Vortragsreihe unser Bewusstsein für Rassismus und Sexismus geschärft haben, haben wir hier einen für viele neuen Begriff gelernt: Speziesismus. Analog zu Rassismus, wo sich eine „Rasse“ der anderen überlegen fühlt und Sexismus, wo sich ein Geschlecht dem anderen überlegen fühlt, beschreibt Speziesismus das Gefühl der Überlegenheit einer Spezies (konkret die Spezies „Mensch“) gegenüber einer anderen (Spezies „Tier“). Nah an den koranischen Texten erfahren wir, dass dieses ultimative Überlegenheitsgefühl, dass uns als Menschen dazu verleitet, uns Tiere nach unseren Bedürfnissen und unserem Willen beliebig nutzbar zu machen, nicht der Vorstellung des Menschen als „Kalif“ / als Beauftragter auf der Erde entspricht, wie wir sie im Koran finden.
Es gibt kein Tier auf der Erde und keinen Vogel, der mit seinen Flügeln fliegt, die nicht Gemeinschaften wären gleich euch. Wir haben im Buch nichts vernachlässigt. Hierauf werden sie zu ihrem Herrn versammelt
Sure al-Anam 6:38
Im Vortrag haben wir über viele Fragen nachdenken und diskutieren können, die man sich vermutlich niemals einfach so stellt. „Was ist ein Tier?“ – an den islamischen Quellen entlang ist das gar nicht so einfach zu beantworten. Wie ging der Prophet Mohammed (sas) mit Tieren um, welche Überlieferungen gibt es da?
Raus aus der theoretischen Theologie und rein in den Alltag – was bedeutet verantwortungsvoller Umgang mit Tieren und mit unserer uns umgebenden lebendigen Welt konkret? Wie kann man Konsum anders gestalten? Muss man gleich ganz auf Fleisch und tierische Produkte verzichten? Die richtige Antwort ist vermutlich: lieber kleine Schritte gehen, als die großen nicht zu gehen. Im Hinblick auf das Konsumverhalten des Propheten (sas) fällt es nicht allzu schwer, für den Anfang weniger Fleisch zu essen und wenn, dann darauf zu achten, wo es herkommt und wie das Tier gelebt hat und gestorben ist. Als Empfehlung nehmen wir mit, das Fasten auch unabhängig vom Ramadan wertzuschätzen, auch um ein Bewusstsein zu entwickeln, was bzw. wie wenig wir wirklich brauchen und wie unnötig das Überangebot in unserem Umfeld ist, zumal an so viel anderen Orten der Welt nicht genug Nahrung vorhanden ist.
Nicht zu vernachlässigen sind die Fragen der Tierethik auch im Hinblick auf das kommende Opferfest, auch hier hat Talha wichtige Punkte aufgearbeitet. Abgekürzt lernen wir, dass die Vorraussetzungen in unseren mitteleuropäischen Schlachthöfen und in der Tierhaltung kaum bzw. so gut wie nie gegeben sind, um überhaupt den Fleischkonsum islamisch zu rechtfertigen oder auch im Speziellen das Schächten eines Tieres für das Opferfest. Eine vegetarische bzw. vegane Begehung dieses Festes würde also aus theologischer Sicht kein Gebot brechen. Wir schätzen den Denkanstoß Talhas sehr, der bei der Frage nach dem Sinn des Festes folgendes mit uns teilt:
Du befindest dich nun in Mina, der Bühne Abrahams; du beginnst, dich wie Abraham zu verhalten. Er hatte seinen Sohn Ismail hierher gebracht, um ihn zu opfern. Wer oder was ist dein Ismail? Dein Rang? Deine Ehre? Dein Beruf? Dein Geld? Dein Haus? Dein Hof? Dein Auto? Deine Liebe? Dein Wissen? Deine gesellschaftliche Klasse? Deine Kunst? Deine Kleidung? Dein Leben? Deine Jugend? Deine Schönheit? Was… Ich kann es nicht wissen. Aber du kennst dich. Wer und was es auch sei, du musst es mit dir bringen, um es hier zu opfern. Was es ist, kann ich dir nicht sagen, aber ich kann dir Beispiele geben; was immer deinen Glauben schwächt, was immer dich davon abhält, Verantwortung zu übernehmen, was immer für dich eine Hürde bedeutet, den Ruf zu hören und die Wahrheit zu bekennen, was immer dich zwingt zu „fliehen“, was immer Gründe für deine Bequemlichkeit sind, was immer dich blind und taub macht… das ist es, was du opfern sollst! (Ali Schariati)
Wir stehen hier vor der Frage: Wer oder was ist mein Ismail?
Noch einmal möchten wir betonen, dass der Vortrag nicht als moralischer Dauerappell auf uns gewirkt hat, sondern Talha uns mit fundierten Informationen und wertvollen Einblicken versorgt hat, die alle Zuhörer*innen zum Nachdenken bewegte. Der ganze Vortrag kann auf unserem YouTube Kanal oder hier angeschaut werden:
An der Stelle Talhas persönlicher Wunsch: Wir haben nur einen Planeten. Leben und ernähren wir uns (gottes)achtsamer und bewusster. Nehmen wir uns Zeit für Reflexion. Fangen wir bei uns an. Höflich sensibilisieren und aufklären. Seien wir selbst die Veränderung der Welt.
Und: Es muss nicht jeder Veganer werden, aber jeder kann veganer werden.
Das ist auf jeden Fall unser Ziel auch in der DIA, seht dazu unsere Vorhaben im Ramadan. Talha ist auch Botschafter der Kampagne Green Iftar, der wir uns sehr verbunden fühlen.
Zu guter Letzt wieder Eempfehlungen zum Lesen, Anschauen und Weiterbilden:
Bücher auf Deutsch
Asmaa El Maaroufi: Ethik des Mitseins – Grundlinien einer islamisch-theologischen Tierethik
Hilal Sezgin: Wieso? Weshalb? Vegan!
Niko Rittenau: Vegan-Klischee ade! – Wissenschaftliche Antworten auf kritische Fragen zu pflanzlicher Ernährung
Niko Rittenau, Ed Winters, Patrick Schönfeld: Vegan ist Unsinn! Populäre Argumente gegen Veganismus und wie man sie entkräftet
Melanie Joy: Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen
Michael Greger: How Not to Die – Entdecken Sie Nahrungsmittel, die Ihr Leben verlängern – und bewiesenermaßen Krankheiten vorbeugen und heilen
Simone Horstmann (Hrsg.): Alles, was atmet – Eine Theologie der Tiere
Simone Horstmann: Was fehlt, wenn uns die Tiere fehlen?
Ursula Kowanda-Yassin: Öko-Dschihad. Der grüne Islam – Beginn einer globalen Umweltbewegung
Dokus
Cowspiracy (2014)
Live and let live (2014)
Gabel statt Skalpell (2015)
Hope for all (2016)
The End of Meat (2017)
Das System Milch (2017)
The Game Changers (2018)
Earthlings (2018)
Dominion (2018)
Butenland (2020)
Seaspiracy (2021)
Hallo zusammen und vielen Dank für diesen aufklärenden Beitrag! Das größte Tierwohl und keine Tierquälerei erreicht man, wenn man die Tiere in Frieden leben lässt.
Viele Grüße
Christoph