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Der Islam & die Geschlechter

Der zweite Vortrag unserer Vortragsreihe mit Talha Taşkınsoy (Instagram @talhataskinsoyx) hat ein Thema aufgegriffen, welches leider oder Gott sei Dank in heutigen Zeiten extrem viel diskutiert wird. Auch außerhalb von Religion sind die Fragen nach Gender, Gleichberechtigung, Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern etc. sogenannte Hot Topics, insbesondere aber im Islam, wo Traditionen und Religion oft Hand in Hand gehen, stellen sich diese Fragen nochmal explizit. Und sie müssen auch gestellt werden. Dankenswerterweise hatte Talha, der selbst islamischer Theologe ist, nicht nur Fragen, sondern einige fundierte Antworten für uns und hat Aufklärung betrieben, die nicht als „Genderquatsch“ daherkommt, sondern bei unseren männlichen und weiblichen Zuhörern für einige Aha-Momente gesorgt hat.

Im ersten Teil haben wir uns mit der Schöpfungsgeschichte beschäftigt, wo wir klar sehen können, dass bei einer rein sprachlichen Analyse des Korantextes keineswegs hervorgeht, dass der Mann wie gemeinhin angenommen vor der Frau erschaffen wurde.

Wir sind in unsere Lebensrealität gewechselt und haben etwas über Rechte und Pflichten (des Menschen) und das Konzept der Ehe erfahren, wo wir auch wieder feststellen, dass die sich weithin eingebürgerten Verständnisse der Rollenverteilung in einer Familie (Mann verdient Geld, Frau kümmert sich um Haushalt und Kinder) nicht aus Koran und Sunna abzuleiten ist. Ganz im Gegenteil erfahren wir einiges aus der Sunna des Propheten, welches unser traditionelles Verständnis von den Aufgaben eines Paares in der Familie in Frage stellt.

Wenn wir überlegen, wie die Traditionen die offensichtliche Realität von Koran und Sunna teilweise in den Schatten stellen konnten, müssen wir uns über Koranübersetzungen (bzw. Übertragungen der Bedeutung des Korans) und -interpretationen Gedanken machen. Zwar haben immer auch schon Frauen am Tafsir mitgewirkt, aber die männlichen Korangelehrten oder eher die, die sich durchgesetzt haben, sind weit in der Überzahl, insbesondere in der Blüte der Koranwissenschaft (etwa 9.-14.Jhd.) wurde der Koran hauptsächlich von Männern übersetzt und erläutert. Diese männliche Perspektive beeinflusst das Verständnis natürlich und so ist es nicht verwunderlich, dass sich viele muslimische Gesellschaften in Traditionen verankert haben, wo Männer Frauen überlegen sind. Zur Moderne hin hat sich diese Überlegenheit der Männer eher in Richtung Verantwortung ggü. der Frau entwickelt. Aber zum Glück erleben wir heute eine Rückbesinnung auf den Text und die Praxis des Propheten, welche eine andere Sprache als die patriarchalische sprechen.

Der letzte Punkt auf Talhas Liste im ersten Teil wurde so angekündigt: Emanzipation?! Frage- und Ausrufezeichen sind hier richtungsgebend, als schönes Zwischenfazit hat Silvia Horsch formuliert:

Für die Zukunft eines Zusammenlebens im Sinne einer multireligiösen Gesellschaft ist es wichtig, anzuerkennen, dass verschiedene Lebensentwürfe und unterschiedliche Vorstellungen davon, was Empanzipation bedeutet, gleichberechtigt nebeneinander existieren können, und dass es nicht notwendig ist, ein Konzept für alle verbindlich zu machen.

Der zweite Teil des Vortrags geht nochmal in die Theologie und islamische Ideengeschichte zurück. Wir hören über Prophetinnen im Islam (an der Stelle nicht mehr überraschend – es gibt da einige sehr bedeutsame), Frauen im Koran (auch da viel mehr als man denkt, viele allerdings nicht mit Namen erwähnt) und Hadith – Tradentinnen. Auch da ist der Gesellschaftsgeschichte entsprechend logisch, dass diese Frauen und ihr Beitrag nicht die gleiche Aufmerksamkeit und Wahrnehmung erfahren wie ihre männlichen Kollegen. Hier ist auch ein DIA-Vortrag über muslimische Heldinnen und weibliche Vorbilder empfehlenswert, bei dem einige wichtige Persönlichkeiten hervorgehoben werden und zum Beispiel die Frauen des Propheten nochmal eine neue Perspektive erfahren, die ihnen eher gerecht wird.

Besonders interessant ist der Aspekt, dass die erste Frau des Propheten Ḫadīǧa als die allererste Person gesehen werden kann, die den Islam angenommen hat. Laut Überlieferungen hat sie ihren Mann nach der ersten Offenbarung beruhigt und bekräftigt, dass Gottes Wille ihn auserwählt habe und ihm Gutes widerfahre, nachdem dieser voller Zweifel und Angst war. So könnten wir sagen, dass seine Frau Ḫadīǧa quasi noch vor ihm, aufgrund ihres Vertrauens in Muhammad (Friede sei mit ihm), ohne gänzliche Kenntnis erlangt zu haben, die Botschaft annahm.

An der Stelle möchten wir hervorheben, dass Talha im gesamten Vortrag nicht versucht hat, eine Vormachtstellung der Frau herauszuarbeiten, er hat lediglich aufgezeigt, wie die zur Zeit noch in vielen Gesellschaften verwurzelten patriarchalen Strukturen und Traditionen nicht dem Koran oder der Sunna entsprechen. Diese beiden essenziellen Quellen des Islam sprechen für einen gleichberechtigten, partnerschaftlichen Status von Männern und Frauen in der Beziehung zueinander und auch im gemeinschaftlichen Kontext.

Der gesamte Vortrag ist auf unserem Youtube – Kanal anzuschauen:

Weiterführende Literatur:

Deutschsprachig Online:

https://nafisa.de/ : Muslimische Wissenschaftlerinnen diskutieren: über Frauen im Islam, antimuslimischen Rassismus, Geschlechterverhältnisse und Geschichte

Silvia Horsch http://al-sakina.de/

Offline:

Silvia Horsch u.a. (Hrsg.): Der Islam und die Geschlechterfrage – Theologische, gesellschaftliche, historische und praktische Aspekte einer Debatte

Mohammad Akram Nadwi: Al-Muhaddithat: The Women Scholars in Islam

Benjamin Idriz: Der Koran und die Frauen – Ein Imam erklärt die vergessenen Seiten des Islam

Kathrin Klausing: Geschlechterrollenvorstellungen im Tafsir

Nimet Seker: Koran & Gender – Exegetische und hermeneutische Studien zum Geschlechterverhältnis im Koran

Meltem Kulacatan (Hrsg): Religion, Gender und Bildung: Beiträge zu einem erweiterten Verständnis von Intersektionalität

Amani Abu Zahra: Mehr Kopf als Tuch

Englischsprachig

Celene Ibrahim: Women and Gender in the Qur‘an

Kecia Ali: Sexual ethics and Islam – Feminist Reflections on Qur‘an, Hadith, and Jurisprudence

Kecia Ali: Marriage

Joseph Hill: Wrapping authority – Women islamic leaders in a Sufi Movement in Dakar, Senegal

Boyd and Mack: Collected Works of Nana Asma‘u

Bild (c) Shutterstock

Ein Gedanke zu „Der Islam & die Geschlechter“

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